Der kleine Tierfreund

In Mulm und Moder

Die Axt ist durch den Wald gegangen. Es war ein Splittern und Krachen droben am Hang über dem Tal der kleinen Lurche, ein Niederbrechen und todwundes Aufstöhnen. Am geschändeten Hang, zwischen Strauchwerk, in das die niederstürzenden Bäume klaffende Löcher gerissen haben, dehnt eine einsame Ulme, befreit von der Schar ihrer Brüder, ihr Geäst in die schwarze Nacht. Doch auch an ihrem Stamm hat die Axt gesprochen und deutliche Spuren hinterlassen. Womöglich ist sie abgerutscht, als mit kräftigen Hieben die männliche Leiche an ihrem Fuß zerteilt wurde.

Im Schatten des vermodernden Waldes, zwischen toten Strünken und verwesenden Faulbaum liegt der junge Hilfsförster als Bausatz herum. Hier, in Mulm und Moder, in der Wärme des Zerfalls, im gärenden Försterleib, in den vermorschenden Gliedern, wohnt das Leben, das keiner kennt.

Abermillionen kleiner Mäuler und Kiefern, Körper und Beine purzeln über die waidgrüne Uniform, um zu fressen und zu verdauen, bis Teil für Teil in saftigen, kohlschwarzen geilen Humus verwandelt ist.

überall regt es sich im Zerfall. überall pulst der Herzschlag des Lebens. Tiefe Spalten führen in das zerfallende Gewebe. Grotten klaffen im Sumpf. Es riecht nach Pilzen und Verwesung. Baumschwämme haben sich am Stiefel angesiedelt, drinnen, in seinen modrigen Gemächern, feuchten Gängen und faulen Klüften wohnt der Tausendfuß, solang der grelle Tag auf dem Buschhang liegt. Nachts kommt er hervor aus der öffnung und gleitet mit seinen hurtigen Beinchen über den gefällten Förster, große Beißklauen ragen gefährlich unter der platten Kopfkapsel hervor. Er tastet sich über die Rippen, vorbei am Nest der roten Ameisen, die tief unten im zerteilten Beamtenanwärter ihre Eier und Puppen bergen.

Der Tausendfüßler wittert und spürt. Er ist hungrig. Hier ist jede Nagelbreite trächtig von Leben. Der Mörder braucht nicht lange zu pirschen, bis er sein Opfer entdeckt. Ein schmaler, zäher Regenwurm ist aus der sicheren Tiefe des Nasenloches hervorgestiegen. Er hat sein Reich verlassen, um da oben nach Liebe zu suchen. Er wird keine Liebe finden, er wird niemals wieder hinabsteigen in den Schoß des Hilfsförsters, in das Reich der Unterwelt.

Der Tausendfuß gleitet heran. Matt gleißt das Mondlicht auf seinen Panzerringen. Stoßweise stöbert er umher. Da berühren seine wippenden Fühler den Wurm. Der zuckt zusammen, dummes Wesen. Schon haben die scharfen Chitin-Kiefer zugepackt und den weichen Wurmkörper durchbohrt. Gift schießt aus den Kieferkanälen und strömt zersetzend in den Regenwurm hinein. Er krümmt sich in rastloser Verzweiflung. Doch zu spät. Während sich das eine Ende des Wurmes noch wehrt, wird das andere bereits vom gierigen Mörder verspeist.

Als neugierige Zaungäste lungern drei graue Asseln am Bauchnabel herum, diese seltsamen Krebse, die das Wasser verlassen haben und doch seine Feuchte nicht entbehren können. Sie lieben das Dunkel. Von der Sonne wissen sie nichts. Wenn der Specht morgens am Oberschenkel meißelt und die morsche Hülle birst, dann drücken sie sich ängstlich zurück in das modrige Dunkel und die faulige Feuchte des Körpers, sie, die den klaren Tag scheuen. Sie fürchten ihn mit Recht. Wenige Minuten Sonnenbrand würden genügen, um sie zu töten. Doch drinnen im Förster sind sie sicher, genau wie die Milben, die von innen saugen und verdauen, bis die grüne Uniform in sich zusammen fällt.

Das Leben ist rege, das Leben ist überall. Der Mulmbock steckt seinen hauchdünnen Legerüssel in den Schädelsplint, und schon bald gleiten eine neue Generation langsam wachsender, träge fressender Larven sich durch das Gehirn des Forstadjunkten arbeitet. Werden sie danach etwas über die Schonzeiten des Rebwildes wissen, oder werden sie lüstern der Gastwirtstochter nachblicken? Wir wissen es nicht, liebe Tierfreunde.

Es wird Tag im Mulm des abgeholzten Waldes an der einsamen Ulme. Die gleißende Morgensonne zieht über den Hang. Eine betrunkene Ameise fällt in den gärenden Most, der aus der Försterhülle fließt. Auf den blauen Lippen paaren sich zwei Hirschkäfer. Der junge Tag duftet frisch nach feuchtem Tau, von ferne hört man das heisere Kläffen der Hundestaffel, die die ganze Nacht den Wald abgesucht hat. Ergebnislos ziehen sie wieder ab. Das Paradies der kleinen Kobolde am Fuße der Ulme ist noch einmal davongekommen. Lebt wohl, ihr Milben und Asseln, Mulmböcke und Larven, Würmer und Käfer


(Autor: Dietmar Wischmeyer)
(abgetippt von Michael Petz)